Vorstellungsvideo und Interview mit Dr. Stefan Fourier
Gedanken zu „Selbstreflexion und Krisenbewältigung“ aus der Sicht eines Organisationsentwicklers
Dieser Text wurde veröffentlicht im Rahmen des Quod.X® – Blogger-Dialogs, moderiert von Roger Koplenig.
Selbstreflexion bezieht sich im Allgemeinen auf Personen. Aber natürlich ist es auch für Organisationen wichtig, sich selbst zu reflektieren. Genauer gesagt: Menschen reflektieren die Organisationen, in denen sie arbeiten und/oder leben. Oder sie reflektieren ihre Stellung und/oder ihr Verhalten in Organisationen. Beide Betrachtungsweisen können nützlich sein, um Organisationen, bzw. das Wirken der Menschen in ihnen, besser zu machen. Organisationen besser zu machen kann Vieles heißen. Es kann um Effektivität und Effizienz gehen, um Wettbewerbsfähigkeit, um die Erringung von Marktanteilen, um den Beitrag der Organisation zur gesellschaftlichen Entwicklung oder zu sozialen Aspekten, um Innovationsfähigkeit oder um die Fähigkeit, in Krisen zu bestehen, Krisen zu bewältigen.
Bei der Organisationsreflexion können wir systematisch vorgehen und in drei verschiedenen Richtungen analysieren und bewerten. Da gibt es zunächst das Faktische. Dazu gehören wirtschaftliche Kennziffern und Ziele, Prozesskennziffern, Angaben zu Kapital- und Humanressourcen, zur technischen Ausstattung, aber auch Verfahrensanweisungen und Qualitätskennziffern. Wir gewinnen hier Aussagen über die sachbezogene Verfasstheit einer Organisation, deren Bewertung und Einordnung stets im Vergleich zu den Daten/Zahlen/Fakten anderer Organisationen erfolgen muss.
Das Faktische ist wichtig, ermöglicht jedoch nur eingeschränkte Aussagen über die Qualität einer Organisation hinsichtlich ihrer Fähigkeit zu Innovation, Anpassung an überraschende Situationen und Krisenbewältigung. Hierfür gewinnt die zweite Reflexionsrichtung an Bedeutung, das Verhalten der Menschen in den Organisationen. Dazu gehören der Umgang mit Fehlern, der Umgang mit Zeit, die Art und Weise der Kooperation mit Lieferanten und Kunden, der Umgang mit Andersartigem und Unbekanntem. Ebenso wichtig sind Kommunikation und Information, der Führungsstil und das Führungsverhalten sowie die in der Organisation praktizierten Rituale. Hier nähern wir uns dem Wie: Wie agiert und reagiert die Organisation bei bestimmten Herausforderungen und bei Überraschungen. Letzteres ist besonders interessant bezüglich der Bewältigung von Krisen, da diese für die betroffenen Unternehmen stets „Überraschungen“ darstellen.
Schließlich sind in Organisationen die Normative von Bedeutung. Welches sind die proklamierten Werte, welches sind die gelebten Werte? Welche Tabus gibt es innerhalb der Organisation, welche Vorgaben und Vorlieben existieren? Die Reflexion einer Organisation in diese Richtung gibt Aufschluss über die Grundlagen, auf denen sich Verhaltensmuster aufbauen.
Eine besonders aktuelle Fragestellung ist es, wie eine Organisation auf Krisen vorbereitet ist. Es geht hierbei nicht darum, wie die Organisation auf eine Krise reagiert, im Sinne von Krisenbewältigung. Sondern es geht um die Fähigkeit, von vorneherein für Krisensituationen gewappnet zu sein. Bei der Beantwortung dieser zugespitzten Fragestellung kommt erschwerend hinzu, dass zum Zeitpunkt der Organisationsreflexion niemand die konkreten Herausforderungen einer kommenden, noch in der Zukunft liegenden Krise kennt. Wie muss eine Organisation sein, um auf die Überraschungen der Zukunft, die sie in eine Krise stürzen könnten, vorbereitet zu sein? Wie fähig ist die Organisation, auf Veränderungen zu reagieren oder ihnen standzuhalten, die heute niemand kennt, niemand kennen kann? Wir nennen diese Eigenschaft Changeability, Veränderungsfähigkeit, und verstehen darunter eine Balance zwischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und Anpassungsfähigkeit (Flexibilität).
Bei der Analyse der Changeability einer Organisation ist ein differenzierendes Vorgehen angebracht. Die Organisationsreflexion kann auf insgesamt acht Ebenen vorgenommen werden, in welchen sich die eingangs beschriebenen drei Reflexionsrichtungen, das Faktische, das Verhalten und das Normative, sinngemäß wiederfinden:
Ressourcen (Kapital und Finanzmittel, Anlagen und Maschinen, Produkt-/Serviceportfolio, Technologie, IT/EDV, Informationspool, Wissen/Know-how …)
Strukturen (Aufbauorganisation, Budget-/Konzernstruktur, Infrastruktur, Kennziffernsysteme, Vertriebsstrukturen, Vorschriften und Regelungen …)
Prozesse (Wertschöpfungsprozesse, Entscheidungsprozesse, Controlling, Verwaltung, Logistik/Distribution, Informationsprozesse, Innovationsprozesse …)
Netzwerke (Kundennetzwerke, Lieferantennetzwerke, regionale Netzwerke, Politik, Wissenschaft, Presse, Konzern/Eigentümer, Mitarbeiterfamilien …)
Beziehungen (innerhalb und zwischen Hierarchieebenen, in und zwischen Teams, Mitarbeiter intern/extern, Seilschaften, Generationen, Mann/Frau …)
Verhaltensmuster (offene Regeln, geheime Regeln, Vorbilder, Präferenzen, Tabus, Gewohnheiten, Sprachmuster, Macht …)
Werte (externer/interner Wertekanon, Werteverankerung, Wertedynamik, Sinn, Vertrauen, Offenheit, Verantwortung, Image …)
Denkmodelle (Paradigma, Logik/Kausalität, Diversität, Konformität, Zeit, Kreativität, Undenkbares …)
In jeder dieser Ebenen geht es bei der Bewertung der Changeability einer Organisation um die Balancen zwischen Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit. Diese manifestieren sich auf den einzelnen Ebenen in unterschiedlichen Begrifflichkeiten, zum Beispiel:
Ressource: Reserven vs. Investitionen
Struktur: Macht vs. Selbstorganisation
Prozess: Geregelte Automation vs. gestaltender Eingriff
Netzwerk: Homogenität vs. Diversität
Beziehung: Abhängigkeit vs. Autonomie
Verhalten: Regeln vs. Freiheit
Werte: Vorgabe vs. Verhandlung
Denkmodelle: Logik vs. Intuition
Es gibt keinen Changeability-Standard, an dem sich eine Organisation ausrichten kann. Insofern reflektiert sie sich immer selbst. Bei diesem Prozess setzt sie sich mit ihrem Status auseinander und mit verschiedenen Szenarien, in die sie sich hineinentwickeln könnte. Diese Selbstreflexion der Organisation, die Beschäftigung mit sich selbst, ist also nicht nur Analyse, sondern bereits ein aktiver Vorgang von Entwicklung, durch den die Organisation veränderungsfähiger wird. Sie soll nicht einen Zielzustand einnehmen, weil wegen der Unkenntnis von Zukunft niemand sicher diesen Zielzustand definieren kann. Es gibt ihn schlicht nicht, er kann lediglich – mit Unsicherheit behaftet – erahnt werden. Durch diese Selbstreflexion justiert sich die Organisation auf den verschiedenen Ebenen zwischen Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, verbessert ihre Veränderungsfähigkeit und bereitet sich auf eine Zukunft vor, die sie nicht kennt.
Weiterführende Literatur zu Changeability:
Corporate Change
Das Hannoveraner Modell für nachhaltige Unternehmensentwicklung
Edition Humanagement, White Paper, Hannover 04/2015
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