Sokrates war ein Depp, oder? Der sagte ja selber, dass er nichts wisse.
Wittgenstein war etwas kluger. Der meinte immerhin, man müsse nur über diejenigen Dinge schweigen, über die man nicht reden könne. Naja. Man muss ja auch wirklich nicht zu Allem seinen Senf dazugeben. Unlängst bin ich wieder einmal auf Libet aufmerksam gemacht worden. Der behauptete, selbst der Entschluss zu handeln würde von unbewussten Gehirnprozessen gesteuert, die wir gar nicht beeinflussen könnten. Und neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung sollen das auch noch bestätigen.
Ja spinnen die denn völlig? Für aufgeklärte IndividualistInnen ist exakt hier Schluss mit lustig: Wenn es um den freien Willen des Menschen geht.
Jetzt mal im Ernst.
Wir haben unsere Studien absolviert – die Meisten mit überdurchschnittlichem Erfolg. Unsere Meisterbriefe, Fortbildungen und Zusatzausbildungen. Unsere Matura-Zeugnisse und Hauptschulabschlüsse. Und dann noch diese jahrelange praktische Erfahrung …
Wir können schon was!
Wir unterhalten in unseren Betrieben qualitätsgesicherte Prozesse. Führen regelmäßige Mitarbeitergespräche durch. Arbeiten mit Incentives und Betriebsvereinbarungen. Arbeitszeitmodellen, Sonderrechten und Privilegien – allesamt mehr oder minder hoch komplexe Systeme, die alle das gleiche Ziel verfolgen: Sie sollen uns helfen besser zu werden.
Schneller, höher, besser zumindest als die Konk… pardon. Als der geschätzte Wettbewerb.
Was sollen da die abstrusen Erkenntnisse längst verstorbener kluger Herren, die mit Sicherheit noch nie ein Unternehmen geführt, eine Abteilung geleitet oder auch „nur“ an einer Werkbank gestanden haben?
All unsere Anstrengungen!
Unser redliches Bemühen. Was wir nicht schon alles erreicht haben! Von der Erfindung des Rades, der Dampfmaschine und der Eisenbahn über das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit bis hin zur digitalen Revolution, zu unserer heutigen an Nachhaltigkeit, Freiheit und Demokratie orientierten „Wohlstand für Alle“-Gesellschaft.
Wohlstand für alle. Zumindest für diejenigen halt, die so denken wie wir.
Ok. Ein paar Herausforderungen haben wir noch zu bewältigen. Dieses Problem mit dem Zinseszins zum Beispiel. Und die Alterspyramide. Und Haarausfall. Das Meiste liegt aber auch wirklich bloß an der Dummheit der Politik und der Raffgier von ein paar ganz wenigen Reichen. Bis auf den Haarausfall. Da können die wohl eher nichts dafür. Vermutlich.
ABER. ANSONSTEN GEHT ES UNS DOCH GUT, ODER??
Was haben wir alles mit Kraft, Wissen und Fleiß erreicht. Und mit unserem Willen natürlich. Den können wir messen. Wir können ihn trainieren. Wir sind die Schöpfer unserer eigenen Realität und formen uns die Welt grad widewide wie sie uns gefällt!
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Es kann manchmal ganz schön herausfordernd sein, diese widersprüchlichen Aspekte unter einen Hut zu bringen. Sie zu verstehen und als sinnvolles Ganzes zu erkennen.
Aber es gibt sie nun mal. Diese kaum überhörbaren Hinweise, dass es mit der menschlichen Freiheit beileibe nicht so weit her ist, wie wir es uns gerne vorgaukeln.
Oder hatten Sie schon mal einen ernsthaften Krach mit Ihrer Frau (oder Ihrem Mann) über so etwas Banales wie eine Zahnpastatube? Meinen Sie tatsächlich, er (oder sie) würde dieses blöde Teil absichtlich offen herumliegen lassen?
Nein. Wir führen uns tatsächlich über weite Strecken unseres Lebens wie geistesabwesende Programme auf. Schöne Grüße von der Matrix, übrigens.
Wenn die Aussagen zeitgenössischer Neurowissenschaftler auch nur im Ansatz stimmen, dann müssen wir unsere Entscheidungsfreiheit unter all den Gewohnheiten und Automatismen geradezu mit dem Mikroskop suchen.
Sind denn all die modernen Angebote von Training über Coaching bis Therapie wirklich völlig umsonst?
Sollten tatsächlich diejenigen Recht behalten, die es immer schon wussten: Dass der Mensch nix dazulernt?
Ja. Meinen viele, die der Sache auf den Grund gegangen sind. Hirnforscher wie Gerhard Roth, Altmeister der Psychotherapie wie Otto Kernberg oder die diversen Vertreter des Zen.
Nein. Meinen viele, die der Sache auf den Grund gegangen sind. Die Philosophen Karl Popper und Jean Paul Sartre zum Beispiel.
Jein. Meint einer, der der Sache auf den Grund gegangen ist. Der Philosoph Arthur Schoppenhauer. Der meint, der Mensch könne zwar tun was er will, aber nicht wollen was er will.
Wozu dann dieses vorbehaltlose Getue um Selbstoptimierung, Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung? Na – ganz einfach: Weil es in der Praxis tatsächlich funktioniert. Uns selbst wahrzunehmen, zu beobachten und mit uns selbst etwas vertrauter werden. Das kann schon was.
Sag mal: Merkst du eigentlich, was du da machst?
Ja – so kann das funktionieren: Konsequentes, kontinuierliches Hinschauen auf das, was sich in uns tatsächlich abspielt. Was uns im konkreten (Geschäfts)Alltag auffällt und von Bedeutung erscheint.
Nur, dass es eben nicht bei der Momentaufnahme bleibt. Kein one-night-stand der Selbsterkenntnis, sondern verlässliches, regelmäßiges Üben.
Erkennen von Mustern. Vertraut werden mit ihnen. Neues ausprobieren. Spielräume erweitern. Dran bleiben. … Und daraus kein Drama machen, wenn Vieles sich doch immer wieder zu wiederholen scheint.
Wer sich nicht unter Druck setzt und meint, seine ganze Welt in wenigen Tagen niederreißen und neu zusammenbauen zu müssen, kann davon enorm profitieren.
Möglicherweise ergibt sich dann mal die Gelegenheit, sich mit den Herren Sokrates, Wittgenstein und Libet auf einen Kaffee zusammen zu setzen. Darüber zu staunen, wie wenig tatsächlich in unserer eigenen Hand liegt.
Und gleichzeitig ein bisschen geduldiger mit sich selbst zu sein. Respektvoller mit den eigenen Grenzen umzugehen – und gerade dadurch enorm viel mehr Spielraum zu gewinnen.
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