Wer sich damit näher befasst, merkt rasch: Das Thema ist umfassender als auf den ersten Blick angenommen werden könnte. Meinungsfreiheit. Was hat das mit uns konkret zu tun? Mit unserem täglichen Leben, Arbeiten – Mit der Art, wie wir unsere Betriebe führen?
Es gibt Themenkomplexe, auf die wir fast tagtäglich stoßen – Running Gags. Das hat mit unserer persönlichen Wahrnehmung zu tun. Und mit unserer kollektiven Verfasstheit als Gruppe. Da ist dann die Rede von „Wertegemeinschaft“ oder „Unternehmenskultur“.
Hot Spots. Kristallisationspunkte der (öffentlichen) Debatte.
Aus der Distanz sieht man die Dinge in der Regel etwas klarer. Zwei Beispiele.
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte der Diskurs zum Thema Schwangerschaftsabbruch wenig Sachliches. Da prallten Weltbilder aufeinander: „Mein Bauch gehört mir“ wurde zum Schlagwort einer sich emanzipierenden Frauenbewegung. Die Fronten zwischen „konservativ“ und „emanzipiert“ waren rasch gezogen und differenziertere Betrachtungsweisen zwischen den Extremwerten fanden wenig Gehör.
Die 80er Jahre wurden dann zur Geburtsstunde der Ökologiebewegung. Die Erkenntnis, dass die Bäume zwar in den Himmel, aber nicht darüber hinaus wachsen, führte bei Vielen zu Nachdenklichkeit und der Suche nach Alternativen. Die Bandbreite des Diskurses spielte sich ab zwischen „Jute statt Plastik“, „No Future“ und dem völligen Ablehnen jeglicher Verantwortung für Umwelteinflüsse.
Ich erinnere mich an eine Diskussionssendung („Club 2“), in der ein prominenter Vertreter der Seilbahnwirtschaft allen Ernstes argumentierte, die durch menschliches Zutun herbeigeführte Erderwärmung würde den Planeten vor einer geologisch bereits seit mehreren hunderttausend Jahren überfälligen Eiszeit bewahren.
Nun ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche laut Statistiken seit den frühen 80ern um etwa 50% zurückgegangen und längst hat sich eine sogenannte „blue economy“ herausgebildet, die sich zum Ziel setzt „mehr mit weniger“ zu erzeugen.
Beide Entwicklungen verdeutlichen – wenn auch nicht das Ende ideologisierter Debatten – so doch eine etwas nüchternere Pragmatik. Das Leben ist nun einmal bunt und nur Weniges lässt sich sinnvoll in ein simples Schwarz-Weiss-Schema pressen.
Meinungsfreiheit heute.
Heute bieten sich entzündbaren Geistern andere Konfliktfelder. Zum Wettern und Zetern. Zum Fürchten und Anklagen. Zum Kämpfen und Ringen. Mit Worten und Taten. Und inzwischen auch wieder mit Toten.
Offensichtlich übt die geladene Atmosphäre erhitzter Menschenmassen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus auf linke wie rechte, säkulare wie religiöse, hetero- wie homosexuelle Menschen, die sich fraglos gedrängt fühlen, ihren persönlichen Standpunkt lautstark der Öffentlichkeit mitteilen zu müssen.
Soweit so gut. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, die es sich auf die Fahnen heftet, mit Diversität umgehen zu können und Individualität als höchstes Gut zu vertreten.
Wirklich?
„Meinungsfreiheit“ wird dieser Tage quasi als Schlachtruf in’s Feld getragen. Doch dahinter verbirgt sich beschämend selten der Wunsch, die Meinung der Anderen verstehen und anerkennen zu können. Wohl eher das platte Bestreben, der eigenen Meinung Gehör zu verschaffen – und zwar gehörig.
Dabei gleichen sich die diversen Darbietungen der jeweiligen Proponenten unabhängig vom jeweiligen Format – gleichgültig ob „Spaziergang“ – „Protest-“ oder „Solidaritätskundgebung“ – und erwecken unisono den Eindruck eines aus dem Rahmen gefallenen Faschingsumzugs.
Diversity
Bunt ist schön. Gebt dem Leben eine Chance, sich zu entfalten! Vielfalt statt Eintopf.
Die Vielfältigkeit unserer Lebensentwürfe ist längst gesellschaftliche Realität. Das sprichwörtliche „man“ hat ausgedient und – zumindest in Westeuropa – sind der Meinungsfreiheit kaum Grenzen gesetzt.
Ich glaube, das ist das Beste, was wir uns wünschen können.
Menschen entscheiden sich aus ihren persönlichen Gründen für dieses oder jenes Lebenskonzept. Für diese oder jene Art zu essen, zu genießen, zu lieben. Sie entscheiden sich, an Dieses oder Jenes zu glauben oder eben nicht daran zu glauben. Sich gesund oder weniger gesund zu ernähren, Sport zu treiben, zu rauchen, Bücher zu lesen, spazieren zu gehen oder vor der Glotze zu sitzen.
Dass es den einen oder anderen recht gesicherten Zusammenhang gibt. Zum Beispiel zwischen Rauchen und Lungenkrebs. Zwischen üppigen Speisen und Blutwerten. Zwischen unterschiedlichen Formen des Sozialverhaltens und zu erwartenden Reaktionen des Umfelds. Das dürfte sich bei den Meisten schon herumgesprochen haben.
Doch bietet uns die Statistik genügend Spielraum. Nicht jeder Raucher wird krank und auch nicht alle Randalierer werden irgendwann tatsächlich in die Schranken gewiesen. Manche Menschen scheinen mit recht destruktiven Verhaltensmustern erstaunlich gut über die Runden zu kommen.
Und manche Menschen haben einfach den Mut, ganz anders zu leben und etwas völlig Neues auszuprobieren.
„Damit das Mögliche entsteht,
muss immer wieder
das Unmögliche versucht werden.“
Hermann Hesse
Meinungsfreiheit: Mehr als eine leere Worthülse?
Vor einigen Jahren hielt ich mich über längere Zeit in Jerusalem auf. Ja, diese Stadt meine ich, in der so viel gestritten, gekämpft, gelitten, gebetet und gelogen wird.
Im Ostteil der Stadt, gleich außerhalb der Altstadt, saß ich in einem gepflegten arabischen Restaurant und nahm ein typisch orientalisches Gericht zu mir. Am Nebentisch unterhielten sich ein orthodoxer Rabbiner und mehrere arabische Männer lautstark – und wie es den Anschein machte in gelöster Stimmung. Es wurde gelacht und auf die Schenkel geklopft.
Nachdem ich die Szene eine Zeit lang beobachtet hatte, wandte ich mich an einen Ortskundigen und zeigte mich überrascht. Bei der allgemeinen Lage in der Region hätte alles erwartet, nur nicht das.
Mein Gegenüber wies mich darauf hin, dass viele orthodoxe Juden in einem recht angespannten Verhältnis zum Staat Israel stehen … und sich darüber mit einem Teil der arabischen Gesellschaft ähnlicher Meinung wissen.
„Wie stehst du eigentlich zu …“ und „Welche Erfahrungen habt denn Ihr gemacht mit …“.
Fragen dieser Art könnten durchaus geeignet sein, Horizonte zu öffnen und Lebenswelten verständlicher zu machen – möglicherweise bei allen Beteiligten.
Als in Deutschland die ersten Probleme mit einer neu erstarkten Rechten öffentlich wahrnehmbar geworden waren, strahlte das deutsche Fernsehen einen Bericht über ein Projekt aus, das mir imponierte: Eine Gruppe von Sozialarbeitern schickte einschlägig auffällig gewordene Jugendliche auf einen Kulturaustausch in die Türkei. Die jungen Leute wurden vorher über ihre Erfahrungen und Erwartungen interviewt, während des Aufenthalts mit der Kamera begleitet und sie berichteten nach ihrer Rückkehr über ihre Erfahrungen. Das Projekt scheint ein voller Erfolg gewesen zu sein.
Offensichtlich ist der direkte Kontakt mit dem jeweiligen Gegenüber unter günstigen Rahmenbedingungen ein möglicher Weg zu gegenseitigem Respekt und Verständnis.
Der konkrete Alltag. Im Wohnviertel …
Nun ist es Eins, sich aus sicherer Distanz über gesellschaftliche Phänomene und scheinbar zufällige Urlaubserfahrungen zu räsonieren – und etwas ganz Anderes, den konkreten Alltag mit Menschen zu verbringen, die … scheinbar so ganz anders ticken wie wir.
Nach meinem Studienabschluss wohnte ich für einige Jahre mit meiner jungen Familie in einer herrlichen Neubauwohnung mit Wintergarten und Blick auf den Sonnenuntergang am Bodensee. Was für ein Glück.
In eben dieser Wohnanlage hatte die öffentliche Hand Sozialwohnungen erworben, in denen fast ausschließlich Familien mit Migrationshintergrund untergebracht waren.
Im Lauf der Monate wich die erste Freude über das bunte Treiben, die orientalische Musik und die fremden Gerüche … und langsam machte sich ein beklemmendes Lebensgefühl breit. Ob des bunten Treibens, der orientalischen Musik und der fremden Gerüche.
Dabei hatten wir ein sehr anständiges Verhältnis zu unseren Nachbarn. Und als uns die Wohnung nach drei Jahren zu klein geworden war und es sich herumsprach, dass wir ausziehen würden, sind Abschiedstränen geflossen. Auf beiden Seiten.
Meinungsfreiheit. Das Recht der Anderen.
Das Recht, etwas andere Zeiten von Aktivität und Ruhephasen zu haben. Statt Mittagspause Remmidemmi. Das Recht, am Sonntag Nachmittag einen privaten Basar abzuhalten. Mit Kleidungsstücken, Gemüse und Fisch – frisch aus dem Kofferraum des privaten Kombis.
Es ist mir im Lauf der Zeit schwerer gefallen, meinen Nachbarn dieses Recht von Herzen zuzugestehen.
Es war und ist dennoch gut, dass sie dieses Recht hatten.
… und im Betrieb.
Die „offene Gesellschaft“ ermöglicht es uns, unser privates Umfeld relativ frei von Einflüssen zu gestalten und weitestgehend ein Leben zu führen, wie wir es für richtig halten. Das hat uns zu großer persönlicher Freiheit und einem blühenden, bunten Sozialleben geführt. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung sieht das als enormen Vorteil.
Und in unseren Betrieben?
Der Vorteil der Perspektive eines externen Beraters ist … die externe Perspektive.
In vielen Kontakten zu Geschäftsleitungen und Mitarbeitenden stelle ich immer wieder eine relativ hohe Autoritätsgläubigkeit fest.
Hierarchische Strukturen spielen nicht mehr ganz die Rolle wie noch vor 20 Jahren. Doch nach wie vor ist es für Führungskräfte immer wieder eine veritable Herausforderung, neue Perspektiven und Ideen von Mitarbeitenden wirklich ernst zu nehmen und der Versuchung zu widerstehen, entsprechende Beiträge mit einem knappen „eh scho wissen“ vom Tisch zu wischen – genauso wie es umgekehrt nicht immer ganz leicht ist, Menschen aus einer lethargischen Grundhaltung à la „Was geht das mich an, ich mach hier nur meinen Job“ zu mehr echtem persönlichem Engagement zu bewegen.
Nun wird es auch im betrieblichen Kontext wenige Menschen geben, die sich nach reiflicher Überlegung offen gegen Meinungsfreiheit aussprechen und „Dienst nach Vorschrift“ als optimale Grundhaltung anstreben. Doch die gelebte Praxis sieht allzu oft anders aus.
Heerscharen von Beratern, Trainern und Coaches verdienen damit ihr Geld.
Wissen, was wirkt.
Wenn sich ein Unternehmen die Mühe macht, in Beratung / Training / Coaching zu investieren, dann geschieht das in den seltensten Fällen aus Philanthropie. Dahinter steht ein manifestes Interesse: Die eigene Ertragskraft verbessern.
Nach einer Phase der Methoden- und Produktverliebtheit schwingt das Pendel der Beraterbranche wieder stärker in Richtung der konkreten Menschen. Selbstreflexion ist das Gebot der Stunde und Trendsetter setzen auf den Menschen als Mittelpunkt – statt Mittel. Punkt.
Die Herausforderung
Die Herausforderung besteht heute zweifelsohne darin, dass wir uns wieder verstärkt auf Grundfragen einlassen: Wer sind wir? Was wollen wir? Was können und wollen wir tun?
Wer sich auf diese Fragen einlässt, macht sich auf einen persönlichen Erfahrungsweg, wie er spannender nicht sein könnte. Er oder sie wird gleichzeitig die Meinung und den Blickwinkel Anderer als wertvolle Ergänzung und möglicherweise auch Korrektur der eigenen Erlebenswelt anerkennen und zu schätzen lernen.
Unternehmen, die sich auf diese Fragen einlassen werden durch die zusätzlichen Perspektiven einer möglichst großen Anzahl von Mitarbeitenden, Lieferanten und Kunden deutlich an Profil gewinnen. Sie werden auf die Herausforderungen der Zeit mit kreativen neuen Lösungen antworten statt sich an Überkommenem festzuklammern.
Gesellschaften, die diese Fragen (wieder) verstärkt zulassen werden die drängenden Herausforderungen der Gegenwart viel umfassender verstehen und damit konstruktiver umgehen statt lediglich Unsummen in eine illusionäre Sicherheitsstruktur zu investieren.
Was alle drei gemeinsam haben: Sie haben keinerlei Erfolgsgarantie.
Doch wer wirklich hinschaut, das Recht der Anderen auf ihren eigenen Standpunkt respektiert und wirklich ernst nimmt, hat eine realistische Chance.
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