Vorstellungsvideo und Interview mit Dr. Heinz Peter Wallner
Viele meiner BloggerkollegInnen haben die aktuelle Krise zum Anlass genommen, die Bedeutung von Reflexion in Zeiten hoher Belastungen zu unterstreichen. Zweifellos wurden viele Menschen aus unserem konsumorientierten Way of Life, der uns in eine Komfortsphäre hüllt, herausgerissen und mit dem Gefühl eines globalen Ernstfalles konfrontiert. Ein solches Gefühl hat es auf kollektiver Ebene schon lange nicht mehr gegeben. Vielleicht war es zum letzten Mal am 11. September 2001 in einer solchen Deutlichkeit zu spüren. Auch damals war kein klassischer Feind auszumachen, was letztlich zu emotional getriebenen Großaktionen geführt hat, die unsere Welt bis heute in eine beträchtliche Schieflage gebracht haben. Diesmal ist der Feind noch unfassbarer, vollständig unsichtbar und, anstatt mit Drohnen, nur mit wissenschaftlichen Mitteln und sozialer Isolation zu bekämpfen.
Es wundert uns wenig, dass eine solche Situation in uns Menschen größtes Unbehagen auslöst. Wie kann es sein, dass ein Virus uns zwingt, unseren integralen Verwöhnungsstatus aufzugeben? Wir sind es gewohnt, unsere Freiheit ohne Aufwendungen und frei von Kämpfen zu genießen, wir sind es gewohnt, in großzügig aufgespannten Sicherheitsnetzen stressfrei zu leben und viele von uns sind es gewohnt, mit überschaubarem Aufwand ein gutes Einkommen zu erlangen.
Wir sind zwar weit davon entfernt, alle von dieser Krise wirklich betroffen zu sein, sehen wir von der Empfehlung ab, temporär in klösterlicher Einsamkeit und Konsumaskese zu verharren. Aber recht viele Menschen wurden in dieser Zeit ungewöhnlich hart getroffen und sind in eine wirklich ernsthafte Krisensituation geschlittert. Wie jede Krise, so bringt auch diese zahlreiche Gewinner hervor und nicht wenige können zumindest dem Ungemach trotzen, weil sie sich über die Sicherheitsnetze unseres Verwöhnungsstaates freuen können.
Es gelten die energetischen Hauptsätze in Krisenzeiten, die unterschiedlich formuliert werden können. Hier zwei Beispiele:
- Eine Krise bringt immer mehr Notleidende hervor, als durch staatliche Hilfsprogramme aufgefangen werden können.
- Eine Krise entzieht immer mehr Menschen die Energie, neu anzufangen, als durch die Suche nach Chancen in Coachinggesprächen wieder geholfen werden kann.
Das bringt mich zur Frage zurück, ob diese Krise eine gute Gelegenheit für Reflexion sei. Wenn wir lange mit uns selbst beschäftigt sind und weniger Ablenkungen unsere Aufmerksamkeit zerstreuen, tauchen wahrscheinlich eigene Gedanken und Fragen auf, von denen wir sonst kaum Notiz genommen hätten. Auf der individuellen Ebene wird die Situation also den Bedarf zur Reflexion verstärken. Hingegen habe ich große Zweifel, ob diese Situation ausreicht, um unseren Way of Life ernsthaft zu hinterfragen und uns auf jene Bedrohungen einzustellen, die als wirklich düstere Wolken am Horizont aufziehen. Doch wer oder was besitzt noch die Autorität, uns mit lauter Stimme zuzurufen: „Denn da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“?
Stefan Fourier hat (in seinem Beitrag) in diesem Punkt aus meiner Sicht sehr recht. Es sind sicher nicht die Coaches und BeraterInnen, die über diese Autorität verfügen. Jemand, der sich aufzwingt, verliert jede Autorität, andere zu Reflexionsrunden einzuladen. Die Einladung, schon mit dem nächsten Schritt ein neues Leben zu beginnen, kann nur von jener Instanz kommen, die sich uns aussetzt und die alles auf ihrer Seite ertragen muss, was auf unserer Seite zur Steigerung der Verwöhnung beiträgt. Wir sprechen von der Natur und von der drohenden Klimakatastrophe.
Warum ist es trotzdem sinnvoll, die Selbstreflexion zur Übung zu machen? Es ist nicht die Krise selbst, die uns zusetzt, sondern es sind unsere Gewohnheiten und Trägheiten, die uns beschweren und driften lassen. In normalen Zeiten, in denen genug Wasser im Fluss des Lebens fließt, können wir – auch wenn wir driften – an schönen Orten vorbeikommen. Wenn aber eine Krise den Fluss zum Erliegen bringt und sich das Wasser nur mehr staut, müssen wir aktiv in die Ruder greifen, um Bewegung in unser Leben zu bringen. Die Frage, die wir uns nicht nur in Krisenzeiten selbst zumuten sollten, lautet also: Wie kann ich die Energie zu einem für mich passenden „Neuanfang“ aufbringen?
Um dem Anspruch des Bloggerdialogs zumindest in Ansätzen zu entsprechen, möchte ich den Beitrag von Stefan Fourier() noch einmal aufgreifen. Er schreibt: „Ich breche hier eine Lanze für die Wahrnehmung des Unterschieds zwischen etwas entwickeln – Menschen und/oder Organisationen – und Selbstentwicklung unterstützen. Das erstgenannte Vorgehen setzt darauf, dass der Entwickler weiß, was richtig ist und die Entwicklung aktiv treibt. Das zweitgenannte Herangehen vertraut darauf, dass mittels Versuch und Irrtum, auf iterative Weise, Menschen und Organisationen ihre eigenen Entwicklungswege finden und beschreiten.“ Der erste Fall erinnert mich an die Rolle einer BergführerIn. Ein erfahrener Mensch hilft anderen, auf möglichst sichere Weise nach oben zu kommen, vorausgesetzt, die Betroffenen haben darum gebeten. Der zweite Weg, der Versuch und Irrtum bemüht, scheint der beliebige zu ein, frei nach dem Motto, jeder Mensch soll machen was er will. Natürlich, warum auch nicht? Welche Rolle dabei aber dem Coach oder der Beraterin zukommen könnte, bleibt unklar. Vielleicht steckt im zweiten der beschriebenen Wege die Idee des „Scaffolding“? Scaffolding meint, Menschen ähnlich einer Kletterrose, ein „Rankgitter“ anzubieten, um den Aufstieg zwar alleine, aber mit einiger Unterstützung fördernder Bedingungen zu schaffen. In komplexen Umfeldern können mit Scaffolding Bedingungen erzeugt werden, die Emergenzen – also das Unerwartete – ermöglichen und so das Potenzial der innewohnenden Kreativität nutzen. Ganz nebenbei bemerkt, ist das Quod.X Programm von Michael Defranceschi ein Paradebeispiel für ein gelungenes „Scaffolding“. Am Ende aber sind auch jene, die Gerüste errichten, damit Menschen in Eigenverantwortung den Aufstieg schaffen, von der Idee beseelt, wissen zu können, wohin die Reise führen soll. Woher sonst könnte die Annahme stammen, darauf zu vertrauen, „dass sich ‚die Dinge‘ schon richtig entwickeln werden“? Wir Menschen sind immer schon von einem „Oben“ her belastet, wie Peter Sloterdijk das beschreibt. Und eingebettet in diese Vertikalspannung bleibt uns nur hinzunehmen, dass es oben besser sei als unten.
Herzlich,
Heinz Peter Wallner
Anmerkung zu den Quellen: Wenn ich meinen Artikel erneut lese, fällt mir auf, dass ich in letzter Zeit wieder viele Stunden mit der Lektüre von Peter Sloterdijk verbrachte habe und daher viele Begriffe und Formulierungen mehr seinem Denken entspringen, als meinem. Siehe Peter Sloterdijk, 2009, Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp Verlag.
© Header Photo by J. Kelly Brito on Unsplash