Sie befinden sich auf einem schmalen Grat. Links und rechts fallen die Felswände steil und schroff ab. In die gefährlichen Schluchten von „work“ und „life“. Doch Ihnen gelingt es bravourös, die Balance zu halten. Gratuliere! Sie haben’s drauf!
Der Hamburger Arbeitspsychologe und Mobbing-Experte Rainer Müller hat dazu in den Sozialen Medien eine Diskussion angestoßen. Das kann dort ja alles sehr flott gehen: Einfach Artikel teilen, ein kurzer Kommentar dazu – und schon geht die Post ab. Wer sein Netzwerk pflegt, erhält Feedback: Bestätigung, Korrektur, Ergänzung, Querverweise – ein Eldorado für Menschen mit Interessen halt.
Aber gilt diese Zeit des Surfens, Lesens, Kommentierens jetzt als Arbeit? Oder Freizeit? Oder ist es beides zugleich?
„Work-Life-Schizophrenie“ lautete der Titel des geteilten Artikels übrigens. Hat mir hervorragend gefallen. Nur: Jetzt hab ich dauernd dieses Bild im Kopf. Von dem Artisten mit der langen Balancierstange – elegant und kunstfertig: Ein Bild wie gemalt.
Vorsicht, Arbeit!
Sie kennen vermutlich den kürzesten Selbständigen-Witz, oder? Selbst und ständig. Damit könnten wir das Thema auch schon wieder abschließen. Aber ganz so einfach ist es denn doch wieder nicht.
Vor vielen Jahren, als mit einem meiner ersten Auftraggeber bereits ein freundschaftlicher Kontakt entstanden war, hatte der mir eine interessante Frage gestellt. Er wollte wissen, wie viel Zeit ich zu Beginn unserer Zusammenarbeit für unseren gelungenen ersten Workshop mit der Geschäftsleitung seines Unternehmens tatsächlich aufgewendet hatte.
Der Auftrag war mir damals besonders wichtig gewesen, das Thema interessierte mich brennend – und entsprechend hatte ich sicher eine Woche Vorbereitungszeit investiert. Wie viel genau, das konnte ich nicht mehr sagen.
Ob ich denn keine Zeitaufzeichnung führe? Nein. Meinte ich – für wen denn auch.
Ok. Seit diesem Gespräch führe ich eine Zeitaufzeichnung. Eine ziemlich genaue sogar – und habe daraus eine Menge über mich gelernt. Darüber, welche Arbeiten eher liegen bleiben. Und wo ich auch an einem regnerischen Samstag Vormittag gerne zupacke … ganz einfach, weil’s mir keine Ruhe lässt.
In manchen schlauen Sprüchen heißt es, das sei dann gar keine Arbeit mehr. Wenn man es wirklich gerne macht.
Vorsicht, Freizeit!
Und doch tut es manchmal gut, Handy und Laptop zuzuklappen, die Bürotür abzuschließen und einfach mal loszulassen. Ein Abend unter Freunden. Ein Spaziergang am See. Urlaub mit der Familie am Meer. Einfach mal runterkommen.
Da triffst du dann auf diesen interessanten Menschen. Der dir schon nach kurzer Zeit erstaunlich offen von sich erzählt. Von erzielten Erfolgen und anstehenden Herausforderungen. Von Scheitern, Schmerz und daraus gezogenen Lehren.
Und schon bist du wieder mitten im Geschäft. Ich meine. Als Coach zumindest. Klar fährst du da im Hintergrund alles hoch, was du im Lauf der Jahre gelernt, erkannt, verstanden hast. Und klar, dass die Kontaktdaten ausgetauscht werden. Ich glaube, darüber sollten wir uns nochmals ausführlicher unterhalten.
Oder diese Kollegin, die du seit langem als brillante Architektin kennst. Die spät abends (oder früh morgens – je nach Betrachtungsweise) an der Bar gefragt wird, wie’s denn so laufe. Die von einem aktuellen Projekt zu plaudern beginnt und die Geburtstagsfeier eine Stunde später mit der Visitenkarte eines Geschäftsmanns verlässt, der sich gerade mit einem ähnlichen Problem herumschlägt.
Der Krankenpfleger auch. Der sich nach Wochen der Mehrfachbelastung endlich ein paar Tage frei nehmen kann um mit der Familie in die Berge zu fahren. Die Frau hat sich von der lästigen Grippe endlich erholt und die Kids haben auch ganz passable Halbjahreszeugnisse nach Hause gebracht – und das, obwohl es zuletzt wirklich nicht immer leicht war. Jetzt einfach ein paar Tage Schifahren: Das frische Aroma der Bergluft statt der keimfreien Krankenhausatmosphäre. Endlich.
Und am zweiten Tag verstaucht sich der Kleine den Knöchel. Statt Wedeln im Tiefschnee kühle Wickel und Märchen vorlesen in der Ferienwohnung. Und schon ist er wieder ganz in der Rolle aufgegangen. Es ist halt sein Leben.
Da soll sich noch jemand auskennen
Ob das mit dem „Loslassen“ vielleicht noch nicht so ganz klappt? Oder ob es so etwas gibt wie eine persönliche „Mission“? Vermutlich haben beide Sichtweisen eine gewisse Berechtigung.
Wenn wir uns schwer tun, aus unserer Geschäftigkeit auszusteigen und den Kopf einfach nicht mehr frei bekommen. Wenn sich unser Blick verengt, der Kopf schwer wird und wir auch in unserer Umgebung auf Widerstände stoßen. Dann könnte es durchaus Sinn machen, sich am Riemen zu reißen und eine vernünftig dimensionierte und gestaltete Auszeit anzutreten – und zwar ohne Schlupfloch.
Wenn es aber einfach nur so aus uns heraussprudelt. Wenn wir aufblühen dabei, intuitiv merken, dass wir einfach zur rechten Zeit am rechten Ort sind. Wenn wir uns dabei so richtig lebendig fühlen. Dann bitte: Lasst uns unsere Kraft nicht vergeuden mit einengenden Konzepten, die zu nicht viel mehr taugen als besserwisserischer Bevormundung.
Wen wundert’s da, wenn unser Artist mit der Balancierstange betreten die Bühne verlässt. Er versteht die Welt nicht mehr, während sein Blick auf munter umherstreifende Alpendohlen fällt.
Elegant und kunstfertig segeln sie durch die Lüfte. Ein Bild wie gemalt.
Sie balgen und zanken sich um ein paar verlorene Brotkrumen und wechseln völlig unbekümmert über den Grat „zwischen“ den Schluchten, der für sie keinerlei Bedeutung zu haben scheint.
Tun, was zu tun ist
Die Diskussion um die sogenannte „work-life-Balance“ ist nicht neu. „Die Trennung von Arbeit und Beruf ist Bullshit“ bringt es Thomas Vasek auf den Punkt. Und Roger Koplenig schlägt stattdessen eine „Performance-Rest-Balance“ vor – also ganz einfach auf eine vernünftige Dosierung seines Engagements zu achten.
Was viele dieser neueren Ansätze gemeinsam haben ist die Verlagerung des Fokus. Wer versucht, eine Balance „zwischen“ dem Einen und dem Anderen zu halten, wird in Beidem scheitern.
Ein Weg ist ein Weg. Klar wird es links und rechts und mitten drin die eine oder andere Herausforderung zu bewältigen geben. Da gibt es nichts zu beschönigen.
Doch Wege entstehen im Gehen.
Nicht im Balancieren.
© Header Photo by Christophe Hautier on Unsplash